Liebe Leser*innen,
das Verbot, auf Demonstrationen sein Gesicht zu verhüllen, gilt in Deutschland schon so lange ich denken kann. Ich weiß nicht mehr, welche meine erste Demo war. Am besten erinnere ich mich aber an die Demos Anfang der 2000er in Hamburg. Es war während der kurzen Amtszeit des damaligen Innensenators und heutigen Wahl-Brasilianers Ronald Schill, dem „Richter Gnadenlos“, der als eine Art früher Vorläufer der AfD in Hamburg Regierungskarriere machte.
Egal ob wir gegen den Ausverkauf der Stadt demonstrierten, gegen die Räumung eines Bauwagenplatzes oder gegen Schill selbst: Jede unserer Demonstrationen wurde damals flankiert von einer langen Reihe Polizist:innen, die in ihren Helmen und Schutzanzügen aussahen wie grüne Space Trooper.
Das war einschüchternd und wir machten uns Sorgen um alle möglichen Dinge, eingekesselt werden etwa. Um eine Sache aber weniger: auf der Demo gefilmt und identifiziert zu werden. Es gab damals einfach nicht die technologischen Voraussetzungen dafür, um anhand einer Aufnahme leicht identifiziert zu werden.
Schill ist weg, die biometrische Suche da
Das ist inzwischen anders. Schill ist zwar lange weg. Dafür ist aber etwas Neues da. Mit frei im Netz verfügbaren Suchmaschinen wie PimEyes kann man heute alle möglichen Treffer zu einem Gesicht im Internet finden, eine Aufnahme der Person reicht. Der eigene Name, vielleicht auch die Adresse oder Arbeitsstelle, das ist damit nur noch ein paar Klicks entfernt von einem Schnappschuss, den jemand auf einer Demo macht.
Was bedeutet das für das pauschale Vermummungsverbot auf Demonstrationen? Darum hat sich mein Kollege Martin Schwarzbeck Gedanken gemacht. Sein Beitrag hat mich diese Woche am meisten beschäftigt. Was hat es eigentlich für Auswirkungen auf ein so wichtiges Grundrecht wie die Versammlungsfreiheit, wenn man sich vor jeder Demo überlegen muss, welches Risiko man mit der Teilnahme daran eingeht? Wäre ich damals auf all diese Demos gegangen, wenn ein Law-and-Order-Innensenator wie Schill uns anhand unserer Gesichter hätte identifizieren lassen können? Seinen Personalausweis kann man zu Hause lassen, auch das Telefon. Das Gesicht nicht. Es ist ein Risiko, das sich nicht mindern lässt.
In Deutschland darf die Polizei biometrische Suchmaschinen nach dem Vorbild von PimEyes bisher nicht einsetzen. Sie darf sehr wohl einen biometrischen Abgleich von Gesichtern machen, aber bislang nur mit ihren eigenen Datenbanken aus erkennungsdienstlichen Maßnahmen, nicht mit der Gesamtheit des öffentlichen Internets. Mit dem geplanten „Sicherheitspaket“ soll sich das ändern. Dann können nicht nur Privatpersonen mit einer Aufnahme nach dem eigenen Gesicht im Internet suchen, sondern auch Ermittlungsbehörden. Dazu muss man nicht mal selbst einer Straftat verdächtig sind: Auch Zeug*innen soll die Polizei auf diesem Weg identifizieren dürfen.
Maske abnehmen oder Demo verlassen
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit denen Martin sprach, von Amnesty International bis zur Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), fordern deswegen: Das pauschale Vermummungsverbot gehört abgeschafft. „Vernünftig wäre es, das Vermummungsverbot so auszulegen, dass es nur gilt, wenn Straftaten begangen werden oder drohen“, sagt etwa der Jurist David Werdermann von der GFF. Im Idealfall müsse es vorher von der Polizei angeordnet werden. Dann könnte man immer noch entscheiden, ob man die Maske abnimmt oder die Demo lieber verlässt.
Welche Ideen hätte ein Innensenator Schill wohl damals bekommen mit einer Hamburger Polizei, die einzelne Demonstrant*innen per Gesicht im Netz nachschlagen kann? Okay, Schill ist schon lange weg, sein Rauswurf löste damals eine der schönsten spontanen Demos in Hamburg aus, den „Schill-Out“. Sein rechtspopulistisches Erbe trägt heute aber die AfD weiter. Was würde die wohl anstellen mit einer Rechtslage, wie sie derzeit dem Bundesinnenministerium vorschwebt: Vermummung auf Demos pauschal verboten, die biometrische Suche im Netz für die Polizei aber erlaubt?
Gut erkennbare Grüße aus der Redaktion
Chris
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